"Ah humanity"

In ihren experimentellen Arbeiten schlagen die beiden Filmemacher eine Brücke zwischen dem klassischen Filmgenre, ihrem anthropologischen Interesse und der Bildenden Kunst. Im Mittelpunkt steht dabei das visuelle Experiment. Sie erforschen jenseits von Konventionen und linearer Sehgewohnheiten neue Ausdrucksmöglichkeiten des Mediums. So sind ihre Filme keine präzisen Dokumentationen, sondern vielmehr nuancierte und facettenreiche Beobachtungen des menschlichen Daseins.

Paravel/Castaing-Taylor analysieren den Menschen vielschichtig mit all seinen sozialen und psychologischen Motivationen sowie als Teil einer Gemeinschaft und die Folgen seines Wirkens auf unserem Planeten. Die Ausstellung Ah humanity! versammelt Filme, die sich mit Nonkonformismus und der Absurdität des menschlichen Verhaltens auseinandersetzen.
Insbesondere die An- und Abwesenheit von Körperlichkeit durchzieht alle drei Arbeiten. Somniloquies, 2017 durchdringt die innere Traumwelt. Während sich die Kamera langsam über schlafende, nackte Körper bewegt, sind historische Aufnahmen aus den 1960er Jahren zu hören. Sie entstanden als Mitschnitte des amerikanischen Songwriters Dion McGregor, der von seinem New Yorker Mitbewohner beim Schlafen sieben Jahre lang aufgenommen wurde. Dabei äußerte er in den Traumphasen ausgiebig seine halluzinatorischen Fantasien. Die Körper ruhen sinnlich, doch das Unterbewusstsein macht sich mit all seinen Ungereimtheiten frei und spricht. Dem widersinnigen, kannibalischen Verlangen widmet sich Commensal, 2017. Als Doppelprojektion
angelegt ist die Arbeit ein Porträt von Issei Sagawa, der im Sommer 1981 eine Pariser Kommilitonin ermordete und Teile ihres Körpers verzehrte. Bewusst umgehen die Filmemacher die Klassifizierung des Täters als Monster, vielmehr suchen sie in eindringlichen Nahaufnahmen und Found-Footage-Material aus Sagawas Kindheit biographische Gründe und Ursachen, die zu diesem Verbrechen führten. Der titelgebende Film Ah humanity!, 2015 reflektiert das Wechselspiel von Mensch, Natur und Maschine.

Die Arbeit wurde nach der Nuklearkatastrophe in Fukushima mit einem Smartphone durch ein Handteleskop aufgenommen. Durch diese Technik evozieren die Bilder eine abstrakte, apokalyptische Vision auf die Verletzlichkeit der Menschheit.In einer Gegenwart, in der erst die unzähligen Umweltkatastrophen uns die gravierenden Auswirkungen der Ökonomisierung der Lebenswelten vor Augen führen, fordert uns die radikale
Filmsprache von Paravel/Castaing-Taylor zum Innehalten, Umdenken und Handeln auf. Bei den langen Entwicklungsprozessen der Filme schöpfen die Anthropologen aus der direkten Erfahrung der teilnehmenden Beobachtung und lassen sich unvoreingenommen auf das Sujet und die Gegebenheiten am Drehort ein. Dadurch entsteht für die Zuschauer*innen oft das Gefühl Teil des Geschehens zu sein. Diese immersive Wirkung wird durch die Soundebene der Filme verstärkt und findet im Ausstellungkontext im Kunsthaus Hamburg eine räumliche Erfahrungsebene.

Véréna Paravel (1971) ist Anthropologin, Filmemacherin und Fotografin. Sie studierte bei Bruno Latouran der École Nationale Supérieure des Mines in Paris und promovierte an der Universität Toulouse. 2004 unterrichtete sie an der Columbia University, New York bevor sie 2008 an die Harvard University wechselte.

Lucien Castaing-Taylor (1966) ist Anthropologe und Filmemacher. Er studierte an der Universityof Southern California bei Timothy Asch (1932-1994) und promovierte an der University of California, Berkeley. 2003 folgte er einem Ruf als Professor an die Harvard University, wo er dasSensory Ethnography Lab ins Leben gerufen hat und seitdem leitet.

Öffnungszeiten: 
Dienstag bis Sonntag 11:00 bis 18:00 Uhr

Ausstellungsdauer:
24. März 2020 bis 21. Juni 2020

Tickets:
Regulär: 5 €
Ermäßigt: 3 € / Schüler: 1,50 € / Gruppen ab 10 Personen: 2 €

Weitere Informationen und Termine unter: 
https://kunsthaushamburg.de/

Foto: © Hayo Heye